Ein Gastbeitrag von Laura Pitkäniemi
Zehntausende Landwirt*innen protestieren seit Monaten in Neu-Delhi. Mit Traktoren und Lastwagen blockieren sie immer wieder die wichtigsten Verkehrsstraßen. Grund dafür ist eine unter Premierminister Narendra Modi erlassene Reform, die das indische Landwirtschaftssystem komplett verändert. Die darin enthaltenen Gesetze ignorieren die zentralen Probleme der indischen Landwirtschaft und beinhalten stattdessen marktliberalisierende Regelungen. Landwirt*innen befürchten Vorteile für große Konzerne und Verluste für Kleinbäuer*innen.
Die Rolle der Landwirtschaft in Indien
In Indien machen landwirtschaftliche Arbeitende mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte im gesamten Land aus, allerdings ist die Industrie geprägt von Armut und Leid. Während die Landwirtschaft im Jahr 1965 noch für ca. 45% der Wirtschaftsleistung verantwortlich war, sind es aktuell „nur“ noch 15%. Durch diesen Rückgang des Wirtschaftszweigs sind mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Haushalte in Indien stark verschuldet und die Selbstmordrate aufgrund der finanziellen Sorgen hoch. Allein im Jahr 2018 haben sich mehr als 10.000 Landwirt*innen in Indien das Leben genommen.
Was hat die Klimakrise damit zu tun?
Die Einkommensunsicherheit der Landwirt*innen ist eng verbunden mit der Unsicherheit darüber, wie viel überhaupt produziert werden kann. Klimatische Veränderungen wie steigende Temperaturen, vermehrte Dürreperioden, weniger und unregelmäßige Regenfälle und die Häufung von Extremwetterereignissen wirken sich negativ auf die angebauten Kulturpflanzen und somit auf die Landwirt*innen aus. Für sie führt die Klimakrise zu instabilen Ernteerträgen und einer Steigerung der Produktionskosten auf ein Level, das für viele keinen Profit mehr bringt.
Hinzu kommt die jahrzehntelange Behandlung der Kulturpflanzen mit chemischen Düngemitteln, welche die Bodenqualität zunehmend beeinträchtigt. Aufgrund dieser Entwicklungen setzen sich Bäuer*innen bereits seit Jahren für Reformen in der Industrie ein. Anstatt sich diesen Forderungen anzunehmen, hat die Regierung unter Modi im September 2020 drei neue Gesetze erlassen, von denen Landwirt*innen befürchten, dass diese die Branche für kleine und mittelgroße landwirtschaftliche Betriebe zerstören werden.
Was bewirken die neuen Gesetze?
Für Jahrzehnte basierte das System der indischen Landwirtschaft auf der staatlichen Regulierung des Marktes — zum Schutz der Landwirt*innen. Die Regierung sorgte durch die Kontrolle des Marktes in der Form von Großmärkten für garantierte Mindestpreise für bestimmte Ernteerträge. Das System ist komplex und lange nicht perfekt, aber es zielte darauf ab, Landwirt*innen zu schützen, indem Marktstandards geschaffen wurden.
Die Reform der Regierung besteht im Wesentlichen aus drei Gesetzen. Sie schaffen einen deregulierten Markt, in dem die Bäuer*innen ihre Produkte direkt an Private, also ohne den Staat als Vermittler, verkaufen können. Die Reform macht Platz für Großkonzerne, die unkontrolliert wachsen können. Kleinere Landwirt*innen befürchten fallende Preise durch mangelnde Verhandlungsoptionen mit Händler*innen. Die Regierung hat die Gesetze im September während des Lockdowns so schnell wie möglich durchgebracht – ohne zuvor mit Gewerkschaften zu beraten oder die Regierungsopposition mitbestimmen zu lassen.
Was die Landwirt*innen fordern und worauf sie aufmerksam machen
Gemeinsam mit den Gewerkschaften fordern die protestierenden Bäuer*innen die Rücknahme der Gesetze durch die Regierung. Nach Monaten des friedlichen Protests kam es Ende Jänner zu Ausschreitungen, bei denen die Festungs- und Palastanlage Rotes Fort in Neu-Delhi von mehreren tausenden Landwirt*innen gestürmt wurde. Von der Polizei werden die Protestierenden immer wieder mit Tränengas und Wasserwerfern attackiert. Seit dem 30. Jänner, dem Todestag des Unabhängigkeitskämpfers Mahatma Gandhi, sind die protestierenden Landwirt*innen außerdem in Hungerstreik getreten. Ihre Zelte in Neu-Delhi abzubauen und die Proteste zu beenden, bevor die Gesetze zurückgenommen werden, ist für die Protestierenden zum aktuellen Zeitpunkt keine Option.
Die Bewegung gewann in den letzten Wochen zunehmend an Stärke und auch an internationaler Solidarität—in vielen Städten weltweit wird solidarisch mit den indischen Landwirt*innen protestiert, auch auf Social Media spricht sich unter anderem Klimaaktivistin Greta Thunberg für die Unterstützung der friedlichen Proteste der Landwirt*innen aus.
Es geht hierbei auch darum, sich mit Menschen zu solidarisieren, die die Welt mit Nahrung versorgen. Viele Produkte wie Reis, verschiedenste Gewürze aber auch Baumwolle, werden in Indien angebaut und global konsumiert. Als Konsument*innen solcher Produkte sollten wir darüber sprechen und laut sein, wenn die Menschen, die für die Produktion dieser Güter verantwortlich sind, um ihre Existenz fürchten. Und in Indien betrifft dies immerhin mehr als die Hälfte aller Arbeitskräfte im Land.
Die ignorierte Krise
Auch wenn die Proteste grob gefasst im Kontext rund um die neuen Gesetze stattfinden, verstecken sich hinter dieser politischen Debatte die zentralen Probleme der indischen Landwirtschaft: steigende Produktionskosten, hohe Verschuldung und Unsicherheiten der Landwirt*innen—angetrieben durch Effekte der Klimakrise. Die erlassenen Gesetze ignorieren diese Problematiken. Solange die Klimakrise nicht als eine der treibenden Kräfte der Landwirtschaftskrise adressiert wird, werden sich die Probleme innerhalb des indischen Landwirtschaftssystems nicht lösen.
Titelfoto © Rohit Lohia / iStock by Getty Images
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