Ein Einblick: Dumpstern als Systemkritik

Ein Einblick: Dumpstern als Systemkritik

Dumpstern ist ein Phänomen, das die Gemüter scheidet. Für die einen ist es der Inbegriff von Faulheit und Betrug, für andere eine Option sich finanziell über Wasser zu halten oder Kritik an bestehenden Systemen auszuüben. Wer dumpstert, befindet sich in Österreich in einer rechtlichen Grauzone. Trotzdem gibt es Menschen, die schon jahrelang dumpstern – zum Beispiel Andreas. Klimareporter.in hat ihn auf einer seiner Touren begleitet und mit ihm über seine Beweggründe, seit Jahren fast ausschließlich Nahrung aus der Tonne zu konsumieren, gesprochen.

Andreas (Name von der Redaktion geändert) trägt eine pinke Regenjacke mit violetten und türkisen Akzenten. Auf dem Kopf eine leuchtend orangene Mütze mit schmalem Leuchtstreifen. Seine schwarzen Haare sind schulterlang und zeigen widerspenstig in alle Richtungen, bis er sie mit seiner Kopfbedeckung zügelt. „Es passt, wenn man auffällig aussieht! Dann denkt keiner, dass du ein Tunichtgut bist“, sagt er und lacht schallend. Ein Lachen, das zu Beginn stechend laut ist, und sich dann in schnellen Atembewegungen verläuft. Unser Treffpunkt ist Andreas Wohnung, um zehn Uhr abends. Bepackt mit Plastiksackerln, Handschuhen und Taschenlampen wirft Andreas seinen noch offenen Rucksack über die Schulter und lässt die Tür seiner Altbauwohnung hinter sich zufallen.  

Warum überhaupt dumpstern?

21:43 und es ist durchdringend kalt. Auf der Hauptstraße ist beinahe nichts los. Ein blauer Volvo biegt an der Kreuzung ab, an der wir warten. Die Fußgängerampel zeigt weiterhin rotes Licht. Wer dumpstert – auch containern genannt – entnimmt Nahrungsmittel aus dem Müll von Supermärkten. Meist im Schutz der Dunkelheit. Andreas dumpstert seit er aus seinem Elternhaus ausgezogen ist, also seit gut sieben Jahren. Lebensmittel kauft er äußerst selten zu, intransparente Lieferketten und große Konzerne möchte er möglichst nicht unterstützen.

„Unser System ist verrückt, deshalb mache ich das“, erläutert Andreas. Nahrung muss schließlich wachsen, dafür benötigt sie Flächen, Wasser, Energie und Logistik. Alles verschwendete Ressourcen, wenn das Essen im Mist landet, meint der überzeugte Dumpsterer. Erhebungen zeigen, dass ungefähr 16% der Treibhausgasemissionen, die durch die Ernährung in der EU erzeugt werden, auf vermeidbare Lebensmittelverschwendung zurückgehen. Die globale Lebensmittelverschwendung verursacht sogar so viel CO2, dass sie im Ländervergleich nach den USA und China den dritten Platz belegen würde. Die Klimakrise beschäftigt Andreas schon lange. Am liebsten würde er eine autarke Kreislauflandwirtschaft aufbauen, um so auf niemanden mehr angewiesen zu sein. „Wir müssen aufhören zu denken, dass immer alles im Überfluss vorhanden ist“, fügt er hinzu. Innerhalb eines Augenblickes wechselt die vertiefte Nachdenklichkeit zurück in seine erzählende und heitere Facette. Er steigt auf den Zebrastreifen – einen winzigen Moment bevor die Fußgängerampel grün anzeigt.

Im Müllraum

Der beleuchtete Schriftzug einer bekannten Supermarktkette sticht grell durch die nächtliche Schwärze. Im Laden selbst flimmert ein kühles Licht aus einem der nicht einsehbaren Räume. Es sei bestimmt niemand mehr hier, versichert uns Andreas. Er beginnt den Parkplatz zu queren. Ein Einkaufswagen steht verlassen neben einem Grünstreifen, an dem wir vorbeikommen. Es ist so still, dass man das Surren der Beleuchtung während des ganzen Weges über den Parkplatz hört. Unsere Gespräche sind zu einem Flüstern übergegangen und die Umgebung verschwimmt zu einer schwarzen Masse. Ein metallisches Geräusch sorgt schließlich für Orientierung. Andreas drückt die Klinke einer silbernen Gittertüre hinunter, die erst ersichtlich wird, nachdem er seine Taschenlampe aufgedreht hat. Der Eingang führt in einen Käfig, der an zwei Seiten zusätzlich von Mauern begrenzt ist. Dank ihnen bleiben drei große schwarze Müllcontainer vom Kund*innenparkplatz aus verborgen.

Andreas schwingt den Deckel des Mistkübels auf. Damit enthüllt er prall gefüllte Müllsäcke, die das Licht seiner Taschenlampe reflektieren. Fein säuberlich verschlossen und übereinandergeschichtet, den Innenraum des Containers nahezu ausfüllend. Es riecht unaufgeregt neutral, obwohl der Mistkübel sperrangelweit offensteht. Auf seine Handschuhe verzichtet Andreas als er den Knoten des ersten Müllsacks löst. Gespannt mit der Taschenlampe hineingeleuchtet kommen Unmengen an Gebäck ans Licht. Vielfalt von der Kaisersemmel bis zur Topfengolatsche. Andreas zieht fünf Packungen Krapfen nacheinander hinaus. „Die sind mit Erdbeere!“, bekundet er freudig und legt die Plastikschale auf den benachbarten Container. „Die esse ich gleich am Heimweg.“

Gebäck gedumpstert

Österreich und die Lebensmittelverschwendung

Manch anderer Mistsack gibt erwartungsgemäße Inhalte preis, die Andreas wenig begeistern: Verpackungen, Folien und Kartons. In interessanteren Exemplaren befindet sich neben Gebäck häufig Obst und Gemüse. Laut einer Studie aus 2020 gehen 28% der Lebensmittelabfälle in Österreich auf Backwaren zurück, weitere 27% auf Obst und Gemüse. Insgesamt werfen wir hierzulande über eine Million Tonnen vermeidbare Lebensmittelabfälle weg, womit eine enorme Belastung für Natur und Klima einhergeht. Besonders schwerwiegend ist hierbei vergeudete Nahrung tierischen Ursprungs. Diese landet zwar nicht in so großen Mengen im Müll wie Gebäck oder Gemüse, verbraucht jedoch bei der Produktion deutlich mehr Ressourcen. Neben Strategien, um Lebensmittelverschwendung in der gesamten Wertschöpfungskette zu verringern, ist vor allem ein klares politisches Handeln notwendig. NGOs fordern verbindliche Reduktionsziele und Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung, sowie flächendeckend und jährlich erhobene Daten. Zudem ist eine eindeutig zuständige Koordinationsstelle notwendig, die Verantwortung bezüglich der Thematik wird zurzeit nämlich zwischen unterschiedlichen Ministerien aufgeteilt.

Österreich hat sich im Jahr 2015 – gemeinsam mit 193 UN-Mitgliedsstaaten – den 17 Zielen der UN-Nachhaltigkeitsagenda verpflichtet. Ziel 12 fordert hierbei nachhaltige Konsum- und Produktionsstrukturen, was auch die Reduktion von Lebensmittelabfällen miteinbezieht. Entstanden sind zu diesem Zweck Initiativen wie „Lebensmittel sind kostbar“ oder „Reset2020“. Auf Nachfrage, was Andreas von Initiativen wie diesen halte, rümpft er die Nase. Dass bislang weniger Lebensmittel in den Mülltonnen der Supermärkte landen, sei ihm auf seinen Touren nicht aufgefallen. „Aber sie haben jetzt oft ein Pickerl, wenn ich sie mitnehme. Da steht drauf, wie kostbar sie sind“.

Unmengen an Nahrungsmitteln

Mit einer Hand hält Andreas den Müllsack und seine Taschenlampe, während er mit der anderen nach genießbaren Nahrungsmitteln wühlt. Er zieht eine Zucchini aus dem Sack und beleuchtet sie akribisch. Sie ist weder besonders groß noch besonders klein für ein Gemüse ihrer Art. Die grüne Schale zeigt stellenweise dunkle Flecken und der Strunk ist an den Rändern angetrocknet. Andreas zuckt mit den Schultern und lässt sie in seinen Rucksack fallen. Sofort hat er den Arm wieder bis zum Ellenbogen im Müllsack vergraben. Es folgen Netze voller Mandarinen, Zitronen und Erdäpfeln. „Ein Joghurt“ begeistert er sich kurz darauf an einem seiner Fundstücke und zieht den weißen Plastikbecher aus dem Mist. Er betrachtet ihn kurz, grinst und ergänzt „sogar bio!“.

Zucchini gedumpster

Den soeben inspizierten Mistsack verschließt er und legt ihn vorsichtig zur Seite. Verständnis für Leute, die auf ihrer Dumpster-Tour eine Spur der Verwüstung hinterlassen, hat Andreas keines. Er containert aus Überzeugung und Protest am System. Jemand anderem das Leben schwer zu machen, indem man Müll umher liegen lässt oder gar ausleert, sei unnötig und werfe ein schlechtes Licht auf alle Personen, die dumpstern. Dass er mit seinen nächtlichen Ausflügen zusätzlich Geld sparen kann, ist natürlich auch nicht schlecht. So ehrlich müsse er sein, ergänzt Andreas.

Seine Transportkapazitäten so gut wie ausgeschöpft, zieht er noch zwei Stangen Porree und ein paar rote Spitzpaprika aus dem Müllsack. Der obere Part des Porrees ist leicht vertrocknet und kräuselt sich bereits. Die Haut des Spitzpaprikas wirft sachte Wellen, was der einzig ersichtliche Hinweis auf das zu hohe Alter des Gemüses zu sein scheint. Häufig findet Andreas so viele Nahrungsmittel, dass er sie allein nicht essen oder aufbewahren kann. In solchen Fällen verschenkt er sie an Freunde, Familie oder Nachbarn. Auch mit RobinFoods hat er diesbezüglich schon zusammengearbeitet. Sie helfen dabei gedumpsterte Nahrungsmittel umzuverteilen. Seine heutige Beute verstaut, verknotet Andreas die noch offenen Müllsäcke und schlichtet sie übereinander. Behutsam schließt er den Plastikdeckel des Müllcontainers, wirft sich den Rucksack über seine Schultern und schaltet das Licht seiner Taschenlampe ab. Es knistert, als Andreas die Plastikschale vom Deckel des Nebencontainers nimmt. Im Stockfinsteren wird der Rückweg angetreten. 

Die rechtliche Situation

„Mag jemand einen Erdbeerkrapfen?“ fragt der Dumpsterer, sobald der Schriftzug des Supermarktes genügend Licht spendet, um die Plastikschale zu öffnen. Er bedient sich an den Backwaren, die vor wenigen Minuten noch im Inneren des Müllcontainers verweilten. Mit beachtlichen Bissen verleibt Andreas sich den Krapfen ein. Die Hände nun voll mit Puderzucker, den er abzuklopfen versucht. Augenscheinlich unzufrieden mit dem Ergebnis, langt er in seine Jackentasche. Ein Taschentuch soll Abhilfe leisten. Dabei fällt gelbes, zerknülltes Schleifpapier aus seiner Tasche.

„Das habe ich immer mit, für die Fingerkuppen“. Sein Handy habe er auf den nächtlichen Ausflügen nie dabei und eine Auskunft über seine Identität würde er verweigern, wenn er festgenommen wird. So habe man ihm das bei Extinction Rebellion erklärt, erläutert Andreas, während er das Schleifpapier wieder in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Wer dumpstert befindet sich in Österreich in einer rechtlichen Grauzone. Prinzipiell gilt umherliegender Müll als herrenloses Gut, sobald Abfälle jedoch in einem Behältnis aufbewahrt werden, handelt es sich um Diebstahl. Das liegt daran, dass der Inhalt – wenn er Vermögenswert hat – den Besitzer*innen des Containers gehört. Nicht eindeutig beantworten lässt sich, ob und welche abgelaufenen Lebensmittel tatsächlich einen Vermögenswert haben. Für Andreas ist die Sache klar: Weltliche Ressourcen sind begrenzt und Lebensmittel daher unheimlich wertvoll. Bleibt das System rund um die Lebensmittelproduktion und Lieferketten bestehen, ist dumpstern für ihn die vertretbarste Möglichkeit an Nahrungsmittel zu gelangen.   

Anmerkung: Klimareporter.in hat Andreas begleitet, um über seine Beweggründe und seine Touren umfangreich berichten zu können. Wir rufen hiermit nicht zum Dumpstern auf.