Ein Gastkommentar von Paul Sajovitz.
„Die wissenschaftlichen Belege sind klar und deutlich, die Fakten unanfechtbar, und es erscheint uns skrupellos, dass unsere eigenen Nachkommen die schreckenerregende Wucht einer beispiellosen Katastrophe, die wir verursacht haben, abbekommen sollen. [….] Wenn eine Regierung vorsätzlich ihre Verantwortung außer Kraft setzt, ihre Staatsbürger vor Schäden zu schützen und die Zukunft kommender Generationen zu sichern, versagt sie in ihrer grundlegendsten Verpflichtung ihres Amtes. Der „soziale Vertrag” wurde gebrochen und es ist daher nicht nur unser Recht, sondern unsere moralische Pflicht, die Untätigkeit und die schamlose Amtspflichtverletzung zu umgehen, zu rebellieren – und das Leben an sich zu verteidigen.“
– Auszug aus einem offenen Brief von „Extinction Rebellion“ an die britische Regierung, unterzeichnet von ca. hundert namhaften AkademikerInnen, veröffentlicht in „The Guardian“ am 26. Oktober 2018.
Die Anfänge der Rebellion für das Leben
Es ist 9.55 Uhr am Morgen des 17.November 2018. Die Londoner Innenstadt zeigt sich von ihrer hübscheren Seite; es herrscht ruhiges, sonniges Spätherbstwetter. Auf den ersten Blick ist dieser Tag ein ganz gewöhnlicher Samstag im Zentrum der britischen Metropole. Kaum jemand ahnt, dass in den nächsten Minuten etwas Außergewöhnliches geschehen wird: Um Punkt 10 Uhr Ortszeit schwärmen plötzlich tausende Menschen wie auf Kommando gemeinsam auf fünf der wichtigsten Brücken über der Themse, setzen sich vor rote Doppeldeckerbusse, Autos und Lastwägen und weigern sich, die Straße wieder freizugeben. Sie hängen aneinander Arm in Am, singen Lieder oder sitzen in stiller Andacht am Boden. Fußgänger und Fahrräder lassen sie ungestört passieren. Unter ihnen auffallend viele Familien, Pensionisten und Kinder. Es ist „Rebellion Day One“, ausgerufen von einer bis dahin kaum bekannten Bewegung namens „Extinction Rebellion“. Ihre erste größere Aktion trifft London mit maximaler Wucht, die Stadt steht still. Die AktivistInnen haben klare Forderungen:
- Die Regierung muss die Wahrheit über die tödliche Bedrohung durch die ökologische Krise offenlegen und alle Gesetze revidieren, die nicht in Übereinstimmung mit dieser Position beschlossen wurden. Außerdem muss die Regierung, gemeinsam mit den Medien, die absolute Dringlichkeit des Wandels kommunizieren, einschließlich dessen, was Einzelpersonen, Gemeinden und Unternehmen zu tun haben.
- Die Regierung muss verbindliche Maßnahmen ergreifen, um die Netto-Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf Null zu senken und die Beseitigung des Überschusses an Treibhausgasen aus der Atmosphäre aktiv voranzutreiben. Unsere Regierung muss im Rahmen internationaler Zusammenarbeit dafür Sorge tragen, dass die Weltwirtschaft nicht mehr als die Ressourcen eines halben Planeten pro Jahr nutzt.
- Diese Forderungen verlangen zwangsläufig Initiativen und Mobilisierung von extremem Ausmaß. Wir vertrauen jedoch nicht darauf, dass unsere Regierung die notwendigen mutigen, sofortigen und langfristigen Veränderungen vornimmt und wir sind nicht bereit, unseren Politikern weitere Macht zu übertragen. Stattdessen fordern wir, als wesentlichen Schritt hin zu einer zweckmäßigen Demokratie, die Schaffung einer Bürgerversammlung, die die Maßnahmen überwacht.
In der ganzen Stadt steht der Straßenverkehr stundenlang still. Der „Guardian“ nennt die Aktion später den „größten Akt zivilen Ungehorsams, den Großbritannien seit Jahrzehnten erlebt hat.“
Erst gegen 14 Uhr hat sich der Verkehr wieder einigermaßen normalisiert. 85 Verhaftungen später ist klar: Extinction Rebellion bedient mit seiner Botschaft über die Tragweite der ökologischen Krise, der Klarheit über die notwendigen, radikalen Umbrüche in der Art und Weise, wie wir in Beziehung zur Erde leben, und einer spürbaren Liebe zur Welt eine tiefe, weit verbreitete Sehnsucht nach einer kollektiven Besinnung. Es ist die Vision für eine Welt jenseits von Profitgier, ökologischer Vernichtung und einer Rückbesinnung auf das Gemeinsame und Verbindende, für die sich Menschen wie Du und ich bereitwillig mit einem vergnügten Lächeln auf den Lippen von der Polizei abführen lassen. Extinction Rebellion ist der lange ersehnte Blick über den Tellerrand des Kapitalismus und seinen bereits im Kern zerstörerischen Antrieb. Die Initiatoren hatten mit einigen Hundert AktivistInnen gerechnet. Gekommen sind um die 6.000. Aus ganz Großbritannien kamen sie in selbst organisierten Bussen in die Hauptstadt, um ein Zeichen gegen die allgegenwärtige Zerstörung der Natur und der Hoffnung auf eine bessere Welt zu setzen. Das enorme Interesse an der Aktion hat alle überrascht, nicht zuletzt die InitiatorInnen selbst. Über die Frage, ob die Rebellion etwas damit zu tun hat, dass die Londoner Stadtregierung rund einen Monat später den Klimanotstand ausrief, kann man nur mutmaßen.
Eine Bewegung mit großen Zielen: International Rebellion Week im April
Nur drei Monate später hat sich die Botschaft von Extinction Rebellion bereits über unseren ganzen Heimatplaneten verbreitet. In über 200 Städten und 40 Ländern auf der Welt haben sich Rebellinnen und Rebellen zusammengefunden, um sich mit aller Macht für den Erhalt unseres lebenden Planeten einzusetzen. So auch in Wien und Innsbruck. Ihr Ziel ist klar: Aus der Geschichte wissen wir, dass wo immer sich mehr als 3,5% der lokalen Bevölkerung zu andauerndem, zivilem Ungehorsam zusammenfanden, Diktaturen und ungerechte Systeme stürzten und gewaltsame Machtstrukturen dem menschlichen Miteinander wichen. Wann immer die Zivilgesellschaft friedlich und ohne Gewalt gegen Ungerechtigkeit in genügend großer Zahl auf die Straße ging, entstand eine bessere, gerechtere Welt aus den Trümmern der alten.
Die Rebellion beruft sich in ihrem Wirken auf Persönlichkeiten wie Martin Luther King, Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi und andere Größen, deren Akte des Ungehorsams ganze Bewegungen inspirierten, die zu ihrer Zeit faktisch unvorstellbaren gesellschaftlichen Fortschritt in erstaunlich kurzer Zeit Realität werden ließen. Friedlicher ziviler Ungehorsam kann scheinbar unüberwindbare Mauern niederreißen, ohne dabei auch nur einen Stein zu werfen. Wer ein jüngeres Beispiel für die erstaunliche Effektivität dieser Methode sucht, braucht sich nur vor Augen zu halten, was der Schulstreik eines 15-jährigen Mädchens namens Greta Thunberg gegenwärtig bewirkt.
Extinction Rebellion möchte dieses Prinzip zum ersten Mal in der Geschichte auf die ganze Welt ausweiten und eine gerechtere, nachhaltige, überlebensfähige und demokratischere Gesellschaft erreichen. Nicht nur für uns Menschen, sondern für alles Leben auf unserem wunderschönen Planeten. Die Menschheit muss sich wieder als Teil der Natur begreifen und dementsprechend verantwortungsbewusst handeln und wirtschaften. Die Bewegung ruft in der Woche ab 15. April zur „International Rebellion“ auf. XR-Gruppen in aller Welt werden in ihrem Wirkungsgebiet gemeinsam eine Woche lang friedlich gegen die Untätigkeit der Regierungen der Welt rebellieren, auch in Österreich.
Community als zentrales Prinzip der Bewegung
Bei Extinction Rebellion geht es aber noch um viel mehr als nur Protest gegen den Status Quo. Enorm viel Wert legen die RebellInnen auf Community. Der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, den viele Menschen angesichts der scheinbaren Alternativenlosigkeit zum System, in das sie geboren wurden, spüren; die Ohnmacht, als Einzelperson nichts gegen das am Horizont sichtbare Ende ihrer Welt tun zu können. Die Verzweiflung, wenn nicht einmal das eigene Umfeld versteht, wieso man nicht mehr fliegt, mit dem Auto fährt oder kein Fleisch mehr essen möchte. Die Wucht der Erkenntnis, dass die menschliche Zivilisation mitsamt großen Teilen der Natur tatsächlich bald nur mehr Geschichte sein könnte. All das belastet viele Menschen weit tiefer als es ihnen bewusst ist.
Es vergeht kaum ein Treffen von RebellInnen, wo keine Tränen fließen. Extinction Rebellion ist eine Gemeinschaft, die einander unterstützt und einander zuhört. Es ist ein sicherer Ort, wo jene Emotionen, die im persönlichen Umfeld und im täglichen Leben keinen Platz haben, endlich an die Oberfläche treten dürfen. Man ist umgeben von Menschen, denen es genauso geht. Man ist füreinander da und macht einander Mut. Die Luft im Raum ist voller Verständnis und spürbarem Mitgefühl. Manche sind zunächst überrascht von ihrer neu entdeckten Emotionalität. Aber am Ende sind alle voller Tatendrang und Optimismus.
Vielleicht spüren wir Menschen instinktiv, dass unsere aktuelle Art zu leben wider die Natur ist. Schließlich sind auch wir biologische Wesen mit einer langen Evolutionsgeschichte, atmen Luft und müssen essen. Extinction Rebellion ist also ein Ort der Ehrlichkeit und der Besinnung. Die Rebellion für das Leben ist ein Weg, zur eigenen Menschlichkeit zurückzufinden und die Liebe zur Welt wiederzuentdecken. Jenseits von Kapital, Konsum, Leistungsdruck und der Kommerzialisierung unserer intimsten Lebensbereiche. Die Rebellion steht für ein Leben mit mehr Freizeit, Gemeinschaft und für ein Zusammenleben unserer Spezies in behutsamer Harmonie mit einer intakten Natur. Aber vor allem steht sie für ein Leben in Freiheit von dem Zwang, die eigenen Lebensgrundlagen zu vernichten.
Eine neue Hoffnung: Klima – Kippunkte vs. Soziale Kippunkte
Vielleicht bringt die International Rebellion Week schon im April dieses Jahres unter den Erwachsenen und älteren Semestern der Welt jenes Feuer in Gang, das Greta Thunbergs Schulstreik für das Klima unter der Jugend bereits entfacht hat. Vielleicht bringt Sie endlich den Willen und den Mut, „Nein“ zu sagen unter genügend Menschen, um einen zeitnahen Paradigmenwechsel unserer Lebensweise möglich zu machen. Die Erkenntnis, dass jedes noch so kleine Zahnrädchen in der Maschinerie unserer Zivilisation enorm viel bewirken kann, wenn es verweigert, sich weiter reibungslos zu drehen und mitanzusehen, wie die Maschine ohne Möglichkeit zur Rückkehr in ein tödliches Minenfeld gelenkt wird. Von „tipping points“ liest man immer wieder in Texten über Klimawissenschaft und Ökologie. Furchterregende Konsequenzen sollen sie haben. Aber auch die Soziologie kennt „tipping points“. Furchterregend sind diese sozialen Kippunkte aber nur für jene kleine Minderheit, die sich – und das erlauben wir uns nach über 30 Jahren aktiv verhinderter Klimapolitik zu sagen – mit aller Macht gegen die Rettung unserer Welt stemmt.
Eine bessere Welt ist nicht nur möglich, sie ist unsere einzige echte Option auf eine blühende Zukunft für unsere Zivilisation. Sollte die Rebellion für das Leben oder andere Bewegungen aus der Zivilgesellschaft von Erfolg gekrönt sein, müssen wir vielleicht nur mehr wenige Jahre auf sie warten.
Autoreninfo:
Paul Johann Sajovitz studiert Ökologie an der Universität Wien und ist am Aufbau von Extinction Rebellion in Österreich beteiligt.
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