In-Vitro-Lebensmittel: Eine nachhaltige Alternative?

In-Vitro-Lebensmittel: Eine nachhaltige Alternative?

Wer auf individueller Ebene einen Beitrag zum Klimaschutz leisten möchte, wird sich früher oder später Gedanken zu den eigenen Ernährungsgewohnheiten machen. Neben dem saisonalen und regionalen Konsum wird häufig die Reduktion von Lebensmitteln tierischen Ursprungs empfohlen. Doch der Umstieg ist für viele herausfordernd oder schreckt gar ab. Hier sollen Lebensmittel Abhilfe schaffen, die nicht der (Massen-)Tierhaltung entspringen, sondern im Labor hergestellt wurden. Sogenannte In-Vitro-Lebensmittel, die nicht nur schmecken und aussehen wie Fleisch, Milch oder Eier – sie sind es tatsächlich auch.

Wir haben uns genauer für dich angesehen:

Wieso überhaupt tierische Produkte im Labor kultivieren? 

Lebensmittel tierischen Ursprungs werden weltweit konsumiert und dahinter steht ein überaus lukrativer Markt. Es wird prognostiziert, dass sich der weltweite Fleischkonsum bis 2050 verdoppeln wird. Einerseits aufgrund des globalen Bevölkerungswachstums und andererseits aufgrund der – aus westlicher Sicht – “Verbesserung” der Lebensumstände in Entwicklungsländern. Dort nimmt der Konsum von Fleisch überproportional zu.

Zudem entspricht es in westlichen Gesellschaften der Norm, dass man Lebensmittel tierischen Ursprungs konsumiert. Die meisten von uns lernen von klein auf, dass Fleisch, Fisch, Milchprodukte und Eier stets im Supermarkt zu bekommen sind, und dass sie für die Zubereitung nahezu aller Speisen benötigt werden. Auch von ernährungswissenschaftlicher Seite wird weiterhin kommuniziert, dass tierische Lebensmittel zu einer vollwertigen Ernährung dazu gehören. Es ist also kein Wunder, dass das Ausschließen solcher Produkte nicht jedermensch leicht fällt, schließlich werden die meisten von uns im Kontext einer Mischkost sozialisiert.

Sehen wir uns konkret den Konsum in Österreich an. Durchschnittlich isst hierzulande jede*r 65kg Fleisch pro Jahr und ganze 660.228 Tonnen Milch wurden 2019 landesweit konsumiert. Die hohe Nachfrage führt zur massenhaften Herstellung, um die Nahrungsmittel jederzeit verfügbar zu haben. Produziert wird aber mehr als letztendlich benötigt wird. Ganze 11% der vermeidbaren Lebensmittelabfälle gehen auf Fleisch, Wurstwaren und Fisch zurück und weitere 12% auf Milch, Eier und Käse. Diese Abfälle sind besonders schwerwiegend, denn die Produktion von Lebensmitteln tierischen Ursprungs nimmt viele Ressourcen in Anspruch.

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Haltung von Nutztieren belastet die Umwelt auf unterschiedlichen Ebenen. Das zieht sich von der Anbaufläche für Futtermittel bis hin zum Wasserverbrauch und dem Ausstoß klimaschädlicher Gase.

Hierzu ein paar konkrete Zahlen und Fakten:

  • ca. 70% der weltweit angebauten Nutzpflanzen werden als Futtermittel für Tiere verwendet. Die damit bepflanzten Flächen belegen ca. 30% der Erde.
  • Futtermittel werden zumeist in Monokulturen angebaut. Dabei werden vermehrt Pestizide verwendet, denn Monokulturen sind anfälliger für Schädlinge. Zudem werden die Nährstoffe aus dem Boden sehr einseitig genutzt, weshalb viel gedüngt werden muss. Das schadet dem Boden, dem Grundwasser und der Biodiversität.
  • Für 1kg Rindfleisch werden ungefähr 16kg Getreide als Futtermittel benötigt.
  • Die Landwirtschaft ist der zweitgrößte Treibhausgas-Produzent, mehr Emissionen produziert nur die Öl-, Gas- und Kohleindustrie. Ins Gewicht fallen hier die in Massen gehaltenen Wiederkäuer, wie Kühe und Schafe. Sie produzieren während ihres Verdauungsprozesses Methan, ein Treibhausgas mit einem ungefähr 25x höheren Treibhausgaspotential als CO2.
  • Für die Produktion von 1kg Rindfleisch benötigt man 118 Badewannen voll Wasser, für 1kg Getreide sind es 13 gefüllte Badewannen.
  • Die fünf größten Fleisch- und Milchproduzenten stoßen genauso viele klimaschädliche Gase aus wie Exxon Mobil, der weltweit größte Ölkonzern.
Wasserverbrauch Fleisch VS Getreide
Vergleich: Wasserverbrauch – Getreide versus Fleisch

Auswirkungen auf beteiligte Lebewesen

Es wird immer deutlicher, dass die Art und Weise wie wir zurzeit an global produzierte Lebensmittel gelangen, nicht nachhaltig und damit nicht langfristig umsetzbar ist. In Europa zeichnet sich seit Jahren ein Trend zur Massentierhaltung ab. Immer mehr Tiere werden auf immer weniger Raum gehalten. Dahinter stecken kaum noch kleine, ländliche Betriebe oder Bauernhöfe, sondern große Konzerne und Tierfabriken. Auf die katastrophalen Zustände in der Massentierhaltung wird von Tierschutz- und Umweltorganisationen (z.B.: VGT, Vier Pfoten, Greenpeace) immer wieder aufmerksam gemacht. Diese betreffen einerseits die dort Beschäftigten (z.B.: Tönnies Skandal) und andererseits all die Tiere, die gehalten und getötet werden.

Auch Konsument*innen selbst sind durch die übermäßige Verwendung von Antibiotika in der Massentierhaltung gefährdet. Diese ebnet den Weg für antibiotika-resistente Keime, welche über das Produkt von den Verbraucher*innen aufgenommen werden. Dadurch verlieren die für den Menschen wichtigsten Antibiotika an Wirksamkeit. Die WHO warnt sogar, dass 2050 Antibiotikaversagen die häufigste Todesursache sein könnte, wenn die Politik nicht rechtzeitig reagiert.

Die Kombination aus steigender Nachfrage und den beschriebenen Zuständen sowie Folgen der Produktion, haben den Markt für vegane und vegetarische Ersatzprodukte deutlich wachsen lassen und zudem die Forschung an tierischen Zellkultur- und Fermentations-Produkten befeuert.

Wie läuft die Herstellung der Lebensmittel aus dem Labor ab?

Fleisch

Die Idee, Fleisch im Labor zu züchten, ist alles andere als neu. Bereits in den 1930-Jahren wurde prophezeit, dass man Fleisch produzieren können wird, ohne dafür den extravaganten Umweg über das Tier zu nehmen. Auch damals schon basierte das auf der Idee, aus einem Stück Fleisch weitere zu erzeugen. Das erste Patent für die Technologie, auf der In-Vitro*-Fleisch basiert, wurde jedoch erst 1999 angemeldet. Für die breite Masse wurde Zellkulturfleisch im Jahr 2013 interessant, da die weltweite Medienlandschaft rege über den ersten Burger aus dem Labor berichtete. Dieser hatte einen stattlichen Produktionspreis von über 250.000€. Es wurde jedoch schon damals darauf hingewiesen, dass der Preis in den kommenden Jahren sinken soll.

*Anmerkung: In-Vitro kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „im Glas“. Man bezeichnet damit organische Reaktionen, die außerhalb eines lebenden Organismus stattfinden.

Die Herstellung

Das sogenannte In-Vitro-Fleisch, im Englischen auch Clean-Meat oder Cultured-Meat genannt, basiert auf den Stammzellen eines geeigneten Tieres. Eine gewisse Anzahl an Tieren muss demnach gehalten werden, um als Stammzellenspender zu fungieren. Im Rahmen einer Biopsie werden dem Tier Stammzellen entnommen. Die entnommenen Zellen vermehren sich anschließend in einem Nährmedium. Aus den Stammzellen werden Muskelzellen und diese bilden daraufhin Muskelfasern. Damit das funktioniert, wird der Muskel mithilfe von mechanischen und elektrischen Impulsen trainiert. Ungefähr 20.000 dieser kleinen Muskelfasern werden benötigt, um daraus zusammen mit Fett und Stärke ein Burger-Pattie zu formen. Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Fleischherstellung mit einem Bioprinter. Dieser 3D-Drucker soll Gewebe aus einzelnen Zellen drucken und ist damit auch für die regenerative Medizin ein spannendes Gebiet.

Das Dilemma mit dem Nährmedium

Damit die Stammzellen sich vermehren und Muskelfasern entstehen können, benötigen sie Nährstoffe. Deshalb liegen sie in einem sogenannten Nährmedium oder Wachstums-Serum. Häufig wird dazu noch Fötales-Kälber-Serum (FKS) als Nährmedium verwendet. Es kommt auch in der medizinischen und pharmazeutischen Forschung häufig zum Einsatz. Um an FKS zu gelangen, muss eine trächtige Kuh geschlachtet und dem Fötus daraufhin Blut entnommen werden. Daraus wird letztendlich das Serum hergestellt. Somit sterben Kuh und Kalb, was die Forschung und Produktion vor ein ethisches Dilemma stellt. Immerhin ist einer der Kernpfeiler von Clean-Meat, dass dafür keine Tiere sterben müssen.

Diese Kontroverse ist den Forschenden und Start-Up-Gründer*innen durchaus bewusst, weshalb fleißig an Alternativen gearbeitet wird. Es gibt hoffnungsvolle Versuche rund um Seren aus Hefe und Algen. Vertreter*innen der führenden Unternehmen für In-Vitro-Fleisch sind sich einig, dass die Produkte nicht auf den Markt kommen werden, bevor nicht ein tierleidfreies Nährmedium genutzt wird.

Milchprodukte

Milch in einem Labor zu kultivieren ist im Vergleich zu In-Vitro-Fleisch eine neuere Entwicklung. Der, nach eigenen Angaben, weltweit führende Anbieter für zellbasierte Milch heißt Turtletree und arbeitet von San Francisco und Singapore aus. Dort wird seit 2019 an der Idee geforscht und gearbeitet. Aber auch in Europa gibt es Start-Ups, die zellbasierte Milchprodukte produzieren – beispielsweise Formo aus Berlin. 

Die Herstellung

Wie gelangt mensch denn nun an Kuhmilch, ohne eine Kuh zu melken? Die beiden vorgestellten Start-Ups beschreiten den Weg auf unterschiedliche Weise. Turtletree entnimmt Zellen aus der Milchdrüse von Kühen und zieht diese in einem Nährmedium heran. Anschließend wird eine Atmosphäre geschaffen, die möglichst dem Inneren einer Kuh entspricht. Das veranlasst die Zellen dazu, Mikronährstoffe in Milch umzuwandeln. Erfreulich ist, dass die Zellen bei diesem Prozess kontinuierlich weiterverwendet werden können.

Formo hat sich hingegen auf die zellbasierte Käseproduktion spezialisiert und nutzt dafür ein Verfahren namens Präzisionsfermentation. Dafür wird ein kopiertes Stück Kuh-DNA in das Genom von bestimmten Hefen eingefügt. In einem Edelstahltank gärt dann eine Mischung aus den genetisch veränderten Hefen und Proteinen für einige Tage. Das entstandene Milchprotein wird anschließend mit pflanzenbasierten Fetten und Kohlenhydraten vermischt und zu Käse verarbeitet.

Weitere In-Vitro Lebensmittel

Auch die Möglichkeiten rund um tierfreies Eiweiß – ähnlich dem aus einem Hühnerei – werden untersucht. Das Start-Up Clara Foods nutzt dazu einen Fermentationsprozess, genauso wie die oberhalb beschriebene Käseproduktion.

Ein weiterer Ansatzpunkt ist zellbasierter Fisch. Das erste europäische Unternehmen für zellbasierte Meeresfrüchte heißt Bluu Biosciences. Für die Herstellung muss auch hier eine Biopsie durchgeführt werden, um einem Fisch Stammzellen zu entnehmen. Diese werden nach erfolgreicher Zellisolation in einem Bioreaktor herangezüchtet und vermehrt. Die Zellbiomasse wird anschließend noch angereichert, um das gewünschte Produkt herstellen zu können. Ein Vorteil von zellbasiertem Fisch im Vergleich zu zellbasiertem Fleisch ist laut dem Unternehmen, dass der Energieaufwand der Produktion deutlich geringer ist. Fische sind nämlich im Gegensatz zu Säugetieren wechselwarme Tiere und daher benötigen die Zellen voraussichtlich bloß Zimmertemperatur, um sich zu vermehren.

Sind tierische Produkte aus dem Labor tatsächlich eine nachhaltige Alternative?

Da die Produkte sich zurzeit noch in der Laborphase bzw. vorindustriellen Phase befinden, sind genaue Prognosen bezüglich der Umweltauswirkungen schwer aufzustellen. Trotzdem gibt es Untersuchungen, die versuchen, die Umweltauswirkungen der industriellen Produktion von zellkulturbasierten Lebensmitteln abzuschätzen. Da es sich um spekulative Hochrechnungen handelt, sind diese mit Unsicherheiten behaftet.

CO2 Emissionen Rindfleisch VS IN-Vitro Fleisch
Vergleich: CO₂ Emissionen – Rindfleisch versus Laborfleisch

Die finnische Wissenschaftlerin Hanna Tuomisto forscht vielseitig zu den Auswirkungen von zellbasierten Lebensmitteln auf die Umwelt und publizierte dazu zahlreiche Studien. Ihre Modellrechnungen zeigen, dass die Produktion von In-Vitro-Fleisch deutlich weniger Treibhausgase produziert sowie bedeutend weniger Land und Wasser in Anspruch nimmt als konventionelle Tierhaltung. Ein Nachteil ist jedoch der Energieverbrauch, welcher bei In-Vitro-Fleisch weiterhin recht hoch ist. Dieser Schwachpunkt könnte jedoch durch das frei gewordene Land kompensiert werden, wenn dieses für die Erzeugung von Solar- oder Bioenergie genutzt wird. Die Wissenschaftlerin kam auch bei Milch- und Ei-Produkten aus dem Labor zu dem Schluss, dass diese weniger Ressourcen benötigen und Emissionen freisetzen.

Betrachtet man zusätzlich noch pflanzliche Proteine, wie beispielsweise Hülsenfrüchte und darauf basierende Fleisch-Ersatzprodukte, wird deutlich, dass diese nochmals weniger Ressourcen in Anspruch nehmen. Sie haben einen geringeren CO₂-Fußabdruck und benötigen weniger Land als zellbasiertes Fleisch. Die Wissenschaftlerin der Universität Helsinki spricht sich daher dafür aus, weiterhin eine pflanzliche Ernährung zu fördern und In-Vitro-Lebensmittel nicht als Wundermittel anzusehen

Emissionen In-Vitro VS Pflanzen
Vergleich: CO₂ Emissionen – Laborfleisch versus pflanzliche Proteine

Wie sieht die Zukunft für In-Vitro-Lebensmittel aus?

Die Technologie rund um tierische Produkte aus dem Labor boomt. Bis die Lebensmittel jedoch marktreif sind und in handelsüblichen Mengen verkauft werden können, werden noch einige Jahre vergehen. Marcus Keitzer, der PHW-Vorstand für alternative Proteinquellen, schätzt, dass in den nächsten 5 bis 6 Jahren Convenience Produkte aus dem Labor – wie beispielsweise Chicken Nuggets – in ausgewählten Restaurants verkauft werden könnten. In Singapur gibt es bereits ein Restaurant, welches kultiviertes Fleisch auf der Speisekarte hat. Das liegt daran, dass in Asien die Zulassung von „Novel Food“ einfacher ist als in der EU. Auch Formo wollen 2023 beginnen, ihre Milchprodukte dort zu verkaufen.

Bis zum Jahr 2035 sollen 97 Millionen Tonnen der Proteinquellen aus Pflanzen, Fermentationsprozessen oder Zellkulturen gewonnen werden. Andere Hochrechnungen prophezeien, dass bis zum Jahr 2040, ganze 60% des Fleisches aus alternativen Quellen stammen werden. Bevor wir jedoch so weit sind, ist noch die Akzeptanz der Bevölkerung der Produkte gegenüber zu beforschen und auch auf Seiten der Technologie und des Nährmediums muss weiter geforscht werden.

Konsum In-Vitro Fleisch
Hochrechnung: Fleischkonsum 2040

Fazit

Der jetzige Forschungsstand rund um die Thematik der In-Vitro-Lebensmittel klingt vielversprechend und durchaus zukunftsträchtig. Was jedoch zum Schluss nochmal betont werden muss, ist, dass die Technologie weder schnell noch umfassend genug ist, um alle ernährungsbezogenen Probleme rund um die Klimakatastrophe zu lösen.

Wer sich auf individueller Ebene für eine umweltfreundliche Ernährung entscheiden oder die Massentierhaltung, wie sie derzeit stattfindet, nicht unterstützen möchte, ist mit einer möglichst pflanzlichen Ernährungsform gut beraten. Diese wird vermutlich auch in Zukunft die ressourcenschonendste Möglichkeit sein.

Trotzdem könnten In-Vitro-Lebensmittel einen wichtigen, mittel- bis langfristigen Beitrag für die Welternährung leisten. Beispielsweise, indem sie die Lücke zwischen steigender Nachfrage und weniger werdenden Ressourcen schließen und damit auch die Möglichkeit bieten, Lebensmittel zukünftig fairer zu verteilen. Zudem müssten Milliarden Tiere nicht mehr gehalten, gefüttert und vor allem nicht getötet werden, ohne, dass jedermensch die eigenen Ernährungsgewohnheiten umstellt.