Aktivist*innen kleben sich auf Straßen, bewerfen Kunstwerke mit Suppe oder besetzen Flughäfen – die Klimabewegung dominiert mit neuen Protestformen die Schlagzeilen. Ihr ziviler Ungehorsam ist ein entschlossener Appell an die Politik: “Tut doch endlich was!”
16. November 2022, 14:00 Uhr: Viele Studierende bewegen sich am Campus der Universität Wien zum Hörsaal C1. Sie folgen dem Aufruf der Organisation Erde Brennt, die seit diesem Morgen die Uni besetzt. Schon eine Stunde später ist der Hörsaal bis in die letzte Reihe gefüllt. Die Stimmung ist gebannt, das Feuer entfacht.
Erde Brennt ist eine von mehreren Organisationen, die mit zivilem Ungehorsam gegen Missstände vorgehen. Sie ist der österreichische Ableger der internationalen Studierendenbewegung End Fossil: Occupy, die im Herbst 2022 Schulen und Unis auf der ganzen Welt besetzt hält. Die Studierenden stellen Forderungen für Klima, Soziales und Bildung – Bereiche, die laut ihnen zusammengedacht werden sollten. Laut Bruno Sanzenbacher, Presseperson von Erde Brennt in Wien, möchte die Besetzung ein Modell für eine solidarische Gesellschaft und krisengerechte Lehre erreichen.
Was ist Ziviler Ungehorsam?
Rechtlich gesehen ist ziviler Ungehorsam eine gewaltfreie Protestform, die üblicherweise erst zum Einsatz kommt, wenn bereits alle legalen Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Die Protestierenden widersetzen sich bewusst dem Gesetz, legen beispielsweise den Straßen- oder Flugverkehr lahm. Sie möchten so die Gesellschaft wachrütteln und die Verantwortlichen zum Handeln bewegen.
Schon der griechische Philosoph Sokrates vertrat die Idee des zivilen Ungehorsams. Den Begriff selbst prägte der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau mit seiner Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam. Sie entstand nach einem eintägigen Gefängnisaufenthalt, weil er aus Protest gegen den Mexiko-Krieg und die Sklaverei seine Steuerzahlungen verweigerte.
16. November 2022, 18:30 Uhr: Lehrende und Studierende nehmen gemeinsam auf dem Podium Platz. Sie diskutieren angeregt über die Zukunft der Besetzung und die Gretchenfrage, wie sinnvoll ziviler Ungehorsam eigentlich ist. Im Saal herrscht Aufbruchsstimmung.
Wie sinnvoll ist ziviler Ungehorsam?
Hier ist sich die Forschung uneinig. Politische Bewegungen sind hochkomplex und verfolgen unterschiedliche Ziele. Es gehe meist nicht darum, eine politische Maßnahme direkt zu erzwingen, erklärt Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der BOKU Wien. “Ziel ist ein gesellschaftlicher Lernprozess, also ein Umdenken zu bewirken”, so der Experte.
Bei der Organisation Extinction Rebellion (XR) ist ziviler Ungehorsam ein letzter Versuch, den Klimakollaps zu vermeiden, wie Mitglied Jelena Saf erklärt. XR spricht sich gegen den fossilen Kurs der Bundesregierung aus und stellt drei zentrale Forderungen: “Sagt die Wahrheit, handelt sofort und schafft eine lebendige Demokratie”.
Die Organisation beruft sich in ihrem Aktivismus auf den sogenannten 3,5-%-claim der Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth. Laut diesem braucht es nur 3,5 Prozent der Bevölkerung, um einen Systemwandel einzuleiten. Diese Behauptung ist den britischen Politologen Oscar Berglund und Daniel Schmidt zufolge aber nicht wissenschaftlich belegt. Dennoch beweist Harvard-Professorin Chenoweth zumindest, dass ziviler Ungehorsam meist erfolgreicher ist als gewaltvolle Proteste. Sogar bei geringer Beteiligung.
Ein möglicher Erfolg der Klimaproteste könnte nach Ilona Otto anhand von sogenannten sozialen Kipppunkten festgemacht werden. Darunter versteht man kleine Veränderungen innerhalb eines Systems, die einen langfristigen Einfluss auf die Gesellschaft haben – die etwas zum Kippen bringen. So ließ sich anhand von Fridays For Future beobachten, dass sich Normen und Werten in der Gesellschaft änderten. Einerseits begannen einige das eigene Weltbild zu hinterfragen, andererseits wurde durch die großen Streiks die Klimakrise vermehrt von politischen Parteien adressiert.
Letzte Generation: Hauptsache Titelseite?
21. November 2022, 18:30 Uhr: Der Protest schafft Aufmerksamkeit. Das zeigt auch eine Aufzeichnung der Puls24-Sendung Pro&Contra. In einer Sondersendung versetzt der Fernsehsender die Diskussionsrunde in den C1-Hörsaal. Trotz schlechter Akustik bleiben drei Viertel des Hörsaals bis zum Ende voll. Das Publikum ist emotional aufgeladen und laut.
Letzte Generation macht währenddessen Schlagzeilen, indem sie sich auf Straßen kleben und Rollfelder von Flughäfen besetzen. Ihre Aktionen polarisieren. In einer Online-Befragung von Unique research bewerten 55 Prozent der Befragten die Aktionen der Letzten Generation als kontraproduktiv. Auch Teile der Klimabewegung äußeren sich kritisch.
Die Aktionen erreichen zumindest eines ihrer Ziele: mediale Aufmerksamkeit. “Es gibt ein Potenzial, die Sache in der öffentlichen Diskussion zu eskalieren und die Klimakrise unignorierbar zu machen“, sagt Florian Wagner, Pressesprecher von Letzte Generation. Die Menschen sollen wachgerüttelt werden. Das schafft Wagner selbst, als er mit seinem Kollegen Lorenz Trattner die Glasscheibe des Klimt-Gemäldes “Leben und Tod” mit Farbe überschüttet. Selbst die New York Times und Forbes berichten darüber.
Im Diskurs um die Letzte Generation macht sich auch der sogenannte “Radical Flank Effect” bemerkbar. Gemeint ist der Einfluss einer sogenannten “radikalen Flanke” auf die Erfolgschancen einer Bewegung. Das bedeutet, dass radikalere Gruppierungen die Unterstützung für moderatere Gruppen erhöhen, da diese im Kontrast anschlussfähiger wirken. So wurde beispielsweise Fridays For Future in der Diskussion um Letzte Generation teils als Positivbeispiel herangezogen. Wie stark dieser Effekt letztlich ist – und ob er einen Unterschied machen kann – lässt sich aktuell aber noch nicht sagen.
Wie effektiv ist ziviler Ungehorsam wirklich?
Ziviler Ungehorsam muss nicht zwingend populär sein, um zu funktionieren. Selbst Martin Luther King war zu Lebzeiten bei vielen Amerikaner*innen unbeliebt. Die Protestforschung zeigt, dass der Erfolg politischer Bewegungen von ihrem Zusammenhalt abhängt. Der Sozialwissenschaftler Patrick Scherhaufer erklärt, dass Bewegungen vor allem dann erfolgreich seien, wenn sie ihre Mobilisierungskraft über einen längeren Zeitraum behalten oder sogar ausbauen. “In Summe zeigt sich, dass kreative, gut organisierte und geplante Protestformen ein höheres Transformationspotential aufweisen als einfache und mitunter gewalttätige Formen”, so Scherhaufer.
Obwohl die Wiener Erde Brennt-Bewegung am 12. Dezember aus dem C1-Hörsaal abzieht, wertet sie die Besetzung als Erfolg. “Jetzt heißt es für uns, weiter den Druck erhöhen, damit die Krisen nicht weiter ignoriert werden und wir in den Verhandlungen mit der Uni endlich echte radikale Verbesserungen erreichen”, so Bruno Sanzenbacher. Auch in anderen Städten ist die Bewegung aktiv. In Salzburg und Graz einigten sich die Aktivist*innen mit der Uni bereits auf Maßnahmen, die die Klimakrise und Nachhaltigkeit stärker in der Lehre verankern sollen.
12. Dezember 2022, 18:00 Uhr: Draußen ist es eiskalt und die Stimmung ruhig. Heute Abend ist die Abzugsdemonstration von Erde brennt. Als Amina Guggenbichler auf den Demo-Transporter steigt, kommt Stimmung auf. “Die Besetzung war der Start für eine neue Studierendenrevolution, denn der Protest hat gerade erst begonnen und wir werden sichtlich noch lauter, sichtlich noch mehr Menschen und viel viel mutiger in dem, was wir machen”, skandiert sie. Die Menge jubelt und feiert. Sie macht sich auf den Weg zum Minoritenplatz. Was sie jetzt erwartet, wird sich im Frühling zeigen. Denn dann soll es weltweit neue Besetzungen geben.
Titelbild: Erde Brennt
Ein Beitrag von Jannik Hiddeßen, Theresa-Marie Stütz und Jana Schön.