Wien und Groningen: Radfahren zwischen zwei Welten

Wien und Groningen: Radfahren zwischen zwei Welten

In Wien dominieren Autos das Straßenbild. Schmale Radwege in schlechtem Zustand und keine durchgehenden Verbindungen macchen das Radfahren zur Herausforderung. Anders in Groningen, einer Stadt im Norden der Niederlande: Hier fährt man morgens mit dem Rad zur Arbeit und Uni. Baulich getrennte und ganzheitlich geplante Radrouten sind schon seit Jahrzehnten etabliert. Was kann Wien von Groningen lernen?

Groningen ist weltweit Vorbild für fahrradfreundliche Infrastruktur. Während hier mehr als 60 Prozent der Einwohner*innen das Fahrrad als alltägliches Verkehrsmittel nutzen, sind es in Wien nur 9 Prozent. Dr. Paul Pfaffenbichler, Verkehrsexperte der Universität für Bodenkultur Wien und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats zum Klimarat, meint: „Die Radinfrastruktur in Wien ist vergleichsweise sehr unterentwickelt und qualitativ schlecht. Eines der Grundprobleme in Wien ist, dass die Kompetenzen für den öffentlichen Raum auf Bezirksebene liegen. Deswegen hat sich eine sehr heterogene Gestaltung entwickelt. Es gibt einen extremen Fleckerlteppich in Wien und nach wie vor sehr viele halbherzige Lösungen.“

In Österreich ist der Verkehr für fast ein Drittel der gesamten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Ein Drittel davon entfällt auf den Güterverkehr, zwei Drittel auf den Personenverkehr. Seit 1990 sind die Emissionen im Verkehr um mehr als 50 Prozent gestiegen. Österreich ist hier im EU-Vergleich weit abgeschlagen. Um die EU-Ziele im Klimaschutz zu erreichen und Strafzahlungen in Milliardenhöhe zu vermeiden, müssen alternative Mobiliätsformen stärker gefördert werden. Radfahren wird deshalb immer bedeutsamer, besonders in Städten.

In Wien ist Radfahren gefährlicher als in Groningen. Die Radwege sind baulich oft nicht getrennt oder enden plötzlich. Im Bild sieht man weiße und blaue Bodenmarkierungen, aber keine bauliche Trennung.
Radwege in Wien sind selten ganzheitlich geplant. | Foto: Wikipedia Commons

Radikale Veränderung über Nacht

Auch in Groningen dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg das Auto die Straßen. Dann übernahm eine fortschrittliche Kommunalverwaltung unter dem damals jungen Politiker Max van den Berg der Arbeiterpartei Partij van de Arbeid (PvdA) die Verkehrsplanung. Sie schlugen eine radikale Verkehrspolitik vor. Lange wurden die Veränderungen diskutiert, und schließlich 1977 über Nacht umgesetzt: Autofahrer*innen wachten morgens auf und mussten feststellen, dass neue Einbahnstraßen direkte Fahrten mit dem Auto unmöglich machten.

Ein Radweg ist baulich getrennt im Noorderplantsoen-Park zu sehen. Rechts ist Wasser, links Grünflächen und links und rechts des Radweges sind Wege für Fußgeher*innen. Radfahren wird hier priorisiert.
Der Noorderplantsoen, ein großer Park im Stadtzentrum Groningens, war früher für Autos geöffnet. | Foto: Selina Graf

Natascha Agricola ist heute Programm-Managerin für Mobilität der Stadt Groningen. Sie erzählt: „Max van den Berg stieß auf viel Widerstand, weil es damals modern war, autofreundlich zu sein. Aber er wehrte sich, weil er verstand, dass dies die Zerstörung der Identität der Stadt bedeutete. Er hatte eine sehr klare Vorstellung davon, wie die Stadt als Ganzes geplant werden sollte. Er hat lange gekämpft und war schon vier Jahre Stadtrat, bis sein Plan umgesetzt wurde.“

Van den Bergs sogenannte „Traffic Circulation Plan“ reduzierte den Verkehr im Stadtzentrum und schaffte mehr Platz für aktive Mobilität. Für Autos wurde es unmöglich, das Zentrum direkt zu durchqueren. So wurde das Rad zu einem selbstverständlichen und sicheren Verkehrsmittel. Außerdem verringerte sich der CO2-Fußabdruck der Stadt und die Luftqualität verbesserte sich. Heute hat Groningen die sauberste Luft aller Großstädte der Niederlande.

Mehrere Gegebenheiten hätten den Umbau zur Fahrradstadt erleichtert, sagt Agricola: „In Groningen gibt es viele Student*innen, die kein Auto besitzen. Außerdem ist die Stadt sehr dicht besiedelt, die Wege sind meist kurz. Und die meisten Niederländer*innen besitzen Fahrräder. Die Basis ist also vorhanden.“

Hunderte Fahrräder stehen hier. Symbolbild dafür, dass Radfahren zu Groningen gehört.
In Groningen wird ein großer Teil der Alltagswege mit dem Rad zurückgelegt. Dafür ist eine gute Infrastruktur notwendig. | Foto: Selina Graf

Keine politische Priorität

Anders in Wien. Hier scheint der Radverkehr keine politische Priorität zu sein: „Mir kommt vor, man will es in der österreichischen Politik immer allen recht machen. Daher kommt es dann zu Kompromissen, die nicht wirklich gut sind“, meint Paul Pfaffenbichler von der BOKU Wien.

Das kürzlich präsentierte Radweg-Bauprogramm der Stadt Wien zeigt, dass die Pläne noch immer den Wahlversprechen hinterherhinken. Paul Pfaffenbichler hat dazu eine sehr eindeutige Meinung: „Für die Stadt Wien hat der Radverkehr keine wirkliche Priorität, auch wenn immer wieder von Förderungen des Radverkehrs gesprochen wird. Da passen das Selbstbild und die Realität nicht zusammen.“

Allerdings sei Wien Vorreiter beim öffentlichen Verkehr. Öffis werden von 70 Prozent der Einwohner*innen genutzt. Auch hat Wien im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten einen niedrigen PKW-Anteil: 374 PKWs pro 1.000 Einwohner*innen. Zum Vergleich: In Radfahr-Hauptstädten wie Kopenhagen und Amsterdam sind weniger als 300 Autos pro 1.000 Einwohner*innen gemeldet.

Stadt der Zukunft

Aus verkehrsplanerischer Sicht sei es für Wien nicht besonders sinnvoll, einen Radverkehrsanteil wie in Amsterdam oder Kopenhagen zu forcieren, sagt Paul Pfaffenbichler. Und weiter: „Allerdings muss natürlich etwas getan werden, um den Radverkehr zu fördern. Er sollte aber nicht in Konkurrenz mit dem öffentlichen Verkehr stehen, sondern den PKW-Verkehr reduzieren.“

Die Klimaziele der Stadt Wien lassen jedenfalls hoffen: Bis zum Jahr 2030 sollen höchstens 250 PKW pro 1.000 Einwohner*innen zugelassen sein. Außerdem soll der Radanteil bis 2025 auf 13 Prozent erhöht werden. Natascha Agricola sagt: „Es geht um die Aufteilung des öffentlichen Raums. Radfahren ist effizient, gesund und sauber, also sollte dafür viel Platz zur Verfügung stehen. Es ist aber auch wichtig zu bedenken, dass es nicht inklusiv ist. Wir müssen also immer das Auto miteinbeziehen. Aber es ist wichtig, das Fahrradfahren attraktiver zu machen.“

Das Radfahren wird in Groningen durch farblich markierte Radwege sicherer. Im Bild ist der Radweg rot hervorgehoben. Es gibt eine linke und eine rechte Spur. Daneben rechts ein Gehsteig. Links und rechts davon sind Grünflächen.
Baulich getrennte und farblich markierte Radwege erhöhen die Sicherheit. | Foto: Selina Graf

Paul Pfaffenbichler schlägt vor: „Es wäre auf jeden Fall hilfreich, wenn es in Wien eine zentrale Verkehrsplanung, eine übergeordnete Planungskompetenz gäbe. Innerstädtisch ist natürlich der Platz ein extrem knappes Gut und er wird größtenteils mit geparkten PKW verstellt. Die Zahl der Parkplätze müsste reduziert werden. Auch eine Temporeduzierung innerorts auf 30 km/h ist sinnvoll. Und das Öffnen aller Einbahnen ist wichtig, da so Umwege für Radfahrer*innen vermieden werden.“

Dafür könnte sich Wien an Groningen ein Vorbild nehmen. Die Pläne von Wien sind zwar ambitioniert, aber die Umsetzung hinkt hinterher. Natascha Agricola fasst zusammen: „Veränderungen erfordern eine klare Vision und Mut.“


Titelbild: links Wikipedia Commons, rechts Selina Graf